by Max Kühlem
Ziemlich gute Idee, den Hund als Wohnungslosen oder Outlaw darzustellen, denn möglicherweise fühlen sich die Ausgestoßenen oder Gemobbten ja genauso, können sich am ehesten mit denen identifizieren, die außerhalb der Gesellschaft leben. Mit denen, die immer aus allen Zusammenhängen gefallen sind, nie irgendwo akzeptiert wurden – nie die Anforderungen geschafft haben, die von Eltern, Lehrer*innen, Arbeitgeber*innen und allen möglichen Institutionen an sie gestellt werden.
Bengt ist ja erstmal nur ein Junge, der in der Schule gemobbt wird, der als zu dick angesehen wird, vielleicht als zu Unbeholfen, uncool, was auch immer. Heute gibt es Begriffe wie Mobbing, dem mit Achtsamkeit begegnet werden soll, um es möglichst auszuschalten. Oder Body-Shaming, dem als Gebot Body-Positivity gegenüber steht. In meiner Schulzeit wurde nicht wirklich von Mobbing gesprochen. Ich stelle mir vor, dass es in Schulen heute Gesprächsrunden zu diesen Themen gibt, Schüler*innen sensibilisiert werden. Aber es kann natürlich sein, dass es immer noch so ist wie damals im Dorf, als ich mich im Freibad nicht aus der Umkleidekabine traute, weil es wenn gewisse andere Jungs auch da waren mindestens Spott und vielleicht sogar Prügel gab. Vielleicht gibt es immer noch Patricks, die den Schwächeren, Stilleren, irgendwie Andersartigen Kirmesverbot erteilen, Sarahs, die von der hintersten Bank im Klassenraum lästern und gemeine Zettel durch alle Hände wandern lassen, oder Jans, die dir ein Fahrrad-Zahlenschloss um den Hals legen, ohne den Code zu verraten.
Vielleicht gibt es auch immer noch Lehrer*innen (meistens waren es aber männliche…), die noch mit auf den sowieso schon Gepiesackten rumhacken, sie zum Vorlesen, Antworten oder sogar an die Tafel zwingen, obwohl sie doch am liebsten einfach verschwunden wären, sich aufgelöst hätten, wie ein Chamäleon mit der Wand verschmolzen wären. Bloß nicht auffallen, bloß nicht die Stimme erheben, keinen Blickkontakt halten, keinen Grund geben, für miese Sprüche, plötzliche Gewaltausbrüche aus dem Nichts.
„Jagger Jagger“ kann erwachsene Zuschauer*innen in diese Zeit und diese Zustände zurücktragen und ich stelle mir vor, dass künstlerische Menschen sich vielleicht bestens auskennen im Kosmos so einer Bengt-Figur. Weil Künstler*innen immer etwas anders ticken, sich für andere Sachen interessieren, anders denken, anders reden, sich anders anziehen als die Mehrheit, und weil die Akzeptanz von Andersartigkeit in den breiten Gesellschaftsschichten wahrscheinlich immer noch nicht so viel größer geworden ist. Interessant ist aber der Gedanke, dass im Theaterbetrieb vielleicht auch deshalb gerade Diskurse gegen alle möglichen -ismen so stark werden, weil man sich eben mit den Schwachen, Marginalisierten, Diskriminierten, mit Minderheiten jeglicher Art eher identifizieren kann, weil hier alle Freaks und Outlaws zusammenfinden.
Interessant auch, dass die Autorin von „Jagger“ Frida Nilsson heißt. Der Name der Astrid-Lindgren-Preisträgerin klingt ja schon selbst wie eine Figur aus Lindgrens Kosmos, wie aus Pippi Langstrumpf (war da nicht so ein Affe?). Pippi war auch so eine Outlaw-Figur, so eine Randständige. Aber sie war stark, sie war die, die Streiche spielt, sie war das Vorbild für den anarchistischen Kampf: Keine Macht für Niemand. Vielleicht ist da ein bisschen Pippi Langstrumpf im Hund „Jagger“. Aber gegen Jagger warcv Pippi ja fast noch brav. Jagger ist schmutzig und auch gemein – auch wenn er sich vielleicht in Wirklichkeit nur nach einer Mama sehnt.
Letztlich ging es mir in der Handlung ein bisschen zu turbulent zu. Okay, vielleicht braucht es eine in schnellen Wechseln erzählte Geschichte um Rache und Verrat, um ein junges Publikum bei der Stange zu halten. Vielleicht reicht eine philosophische Reflektion über das Mobbing nicht aus. Vielleicht schlafen den Besucher*innen gleich die Füße ein, wenn sie diesen Text lesen. Aber trotzdem: Ich hätte diesen Trubel nicht gebraucht und auch nicht die Bestrafungen der gemeinen Kinder. Das hat mich an „Die wunderbare Welt der Amélie“ erinnert, bei dem ich mich auch schon gefragt habe, ob das nicht bescheuert ist, mit denselben Waffen zurückzuschlagen, auch wenn sie vielleicht etwas subtiler sind. Kann man den Fiesen nicht einfach mit Liebe begegnen und dadurch Heilung schaffen? Keine Ahnung. Vielleicht ist es ja auch, wie Jagger sagt: „Wenn man die Fiesen nicht bestraft, lernen die nie nett zu sein.“ Ich mag das nicht glauben, man müsste vielleicht mal bei Foucault nachlesen.
Max Kühlem
…geboren und aufgewachsen in Bergneustadt, ist schwerpunktmäßig in NRW als freier Kulturjournalist, Autor, Songwriter aktiv, veranstaltet auch Lesungen oder die Reihe »Songs & Lyrics by…« am Schauspielhaus Bochum. Auftraggeber*innen sind neben kultur.west unter anderem die Süddeutsche Zeitung, taz, Rheinische Post, Nachtkritik.de oder Magazine wie RollingStone und BODO
Bildnachweis: Dorija Parsley